Donnerstag, 25. August 2005
Zeitreise
Seit Jahren hatte ich vor, diesen alten Schrank vom Dachboden zu holen und aufzuarbeiten. Ein großer Küchenschrank im klassischen Stil, ohne große Schnörkel, unten Schrank, oben milchverglaste Vitrine. Lange vor der Epoche des Gelsenkirchener Barock. Selbst Oma kann ihn nicht genau zeitlich einordnen (wohl weil sie ihn nicht sehen kann, aber das gibt sie nicht zu) - er stammt wahrscheinlich von ihrer Mutter und ist somit fast über 100 Jahre alt.

Heute wurde er aus seinem Jahrzehnte währenden Speicherexil befreit. Es gibt viel zu tun, alter Lack weg, neuer Schliff, mehrere Reparaturen, neuer Lack, neues Glas, ich habe Freude an solchen Restaurationsarbeiten. Nachdem ich das morsche Schrankpapier in 50er-Optik entfernt hatte, ging es dem Schrank mit Heißluftpistole und Beitze zu Leibe. Meine Ohren im Gehörschutz, der eintönigen Arbeit nachgehend, schweifen meine Gedanken ab in die Zeiten dieses Schrankes. In die Vorstellung meiner Urgroßmutter und ihres Lebens am Anfang des letzten Jahrhunderts.

Von weit weg waren sie gekommen, das Ruhrgebiet versprach Kohle, Arbeit, Geld und einen bescheidenen Wohlstand. Wahrscheinlich hatte sich das junge Ehepaar diesen Schrank vom ersten Ersparten gekauft. Später sollte mein Urgroßvater dieses Haus bauen, in dessen Keller ich mitsamt Heißluftpistole jetzt stand. Später kam der erste Weltkrieg, das Ehepaar bekam in dieser Zeit der Armut fünf Kinder, später kam der zweite Weltkrieg, der ihnen drei dieser Kinder wieder nahm. Ihre Tochter hatte bis dahin schon geheiratet und bekam zu der Zeit kurz nach dem Krieg, als die Leute vor Hunger Gras und Blätter unter ihre wässrige Suppe mischten, ihr zweites Kind, meine Mutter. Bettelarm, hungrig und zerbombt musste es fast unmöglich sein, ein Neugeborenes großzuziehen.

All dies, Geburt, Tot, Glück, Freude, Trauer und Elend muss dieser Schrank erlebt haben. Ob sich meine Urgroßmutter jemals ausgemalt hat, wie fast ein Jahrhundert später ihr Urenkel dabei ist, diesen Schrank zu neuem Leben zu erwecken? Hätte sie es als selbstverständlich gehalten, dass ich genug zu Essen habe? Dass ich diese Musik dabei höre? Dass diese aus einer summenden Maschine names Computer kommt? Dass ihre Tochter dabei steht, fast 90jährig, so gut wie erblindet, stolz auf ihren Enkel mit so viel technischem Geschick, Geschichten erzählend aus dieser Zeit?

Auch wenn ich in den nächsten Tagen eine mittelschwere Lösungsmittelvergiftung von dem alten Bleilack davontragen werde - ich liebe diesen Schrank schon jetzt und freue mich auf die Küche, die er demnächst schmücken wird.

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